Geschichte der steirischen Popkultur 1960-1975


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Das Moral- und Wertesystem der 50er Jahre, das konservative Paradigma der Mehrheitsgesellschaft wirkte bis Mitte der 60er Jahre in alle Lebensbereiche hinein. Die Fesselstudie aus dem Jahr 1960 wies aus, dass ca. 50% der befragten Jugendlichen über Politik, Beruf, Arbeit, Pflichterfüllung, Religion, Ehe und Familie und auch über das Sparen eine ähnliche Meinung hatten wie deren Eltern. In bezug auf den Umgang mit dem anderen Geschlecht und auf Sexualität, Tanz und Musik stimmten aber nur noch 25% der Jugendlichen mit den Eltern überein.1 Die frühen 60er Jahre gelten als "goldenes Zeitalter des Heiratens und Kinderkriegens" (Babyboom) und der Vormarsch einer amerikanisierten, industrialisierten Massenkultur, die den Alltag der Menschen umwälzte.2 In Deutschland und Österreich dominierte in den 60ern weiterhin der deutsche Schlager. 1960 besaß jeder dritte deutsche Haushalt einen Plattenspieler, und nur jeder sechste verfügte über ein Bad.3 Während in den USA jährlich 12 Milliarden Schilling für LPs ausgegeben werden, bilanzieren die deutschen Konzerne für das Jahr 1958 mit 58 Mio. verkauften Platten, 60% davon wurden von Jugendlichen erworben. Nach Stahl und Öl nimmt weltweit die Schlagerindustrie den dritten Platz ein. "Heimweh" – Freddy Quinn wird von BRAVO, die im Jänner 1959 Elvis zum Ausschneiden in Lebensgröße anbietet, zum beliebtesten deutschen Schlagersänger gewählt, auf dem zweiten Platz folgt Peter Krauss. 4 In der österreichischen Hitparade schafften von 1960 bis 1965 nur selten englischsprachige Lieder die Platzierung der Nr. 1, eher schon italienisch- und französischsprachige, die aber sofort in einer deutschen Fassung erschienen. Z.B. lag Elvis mit "ruhigeren" Songs wie It’s Now Or Never 1960 für zwei Wochen an der Spitze, 1961 mit Wooden Heart (Muss i denn zum Städele hinaus) für sechs Wochen Nr. 1, Roy Orbison schaffte mit Pretty Woman 1964 vier Wochen Nr. 1 zu sein. Als Folge der ersten Urlaubsreisen nach Italien, die durch den Wirtschaftsaufschwung für mittelständische Bürger möglich wurden, landete 1960 Rocco Granata mit Marina für zehn Wochen auf Nr. 1, die deutschsprachige Version von Will Brandes hielt sich zur gleichen Zeit für fünf Wochen an der Spitze.5 Die Hörfunkabteilung des ORF, der seit 1955 wieder als einheitlicher öffentlichrechtlicher Rundfunk senden konnte, brachte in seinen bundesweiten Programmen mehrheitlich Schlager- und Operettenmusik, sowie Live-Übertragungen aus der Wiener Staatsoper. In den Regionalprogrammen wurden Volksmusik und volkstümliche Musik gesendet. Wie sehr die Politik auf den Schlager Einfluss nahm, zeigt eine Geschichte am Rande der Weltpolitik. Als die Spannungen im Südtirolkonflikt zwischen Wien und Rom vor der UNO 1961 ausgetragen wurden, existierte im Rundfunk eine "interne Empfehlung", dass "auf Gefühle und Ressentiments in der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen und im musikalischen Bereich alles Italienische und Italien Betreffende tunlichst zu vermeiden sei." Vico Torriani’s Grazie, Grazie und Ja, ja, der Chiantiwein wurden kurzerhand vom Programm abgesetzt.6 Die Fernsehabteilung des ORF sendete ab 1956 seine ersten mehrstündigen Testprogramme, neben Nachrichten aus dem Inund Ausland familientaugliche Sendungen und Übertragungen und Aufzeichnungen aus dem Burg- und Volkstheater, sowie aus der Staatsoper. Sendungen für jugendliche SeherInnen hatte der ORF bis Mitte der 60er nicht im Programm.7 Neben den erwähnten Radiosendern BFN und AFN, die in Deutschland ihre Stationen hatten, sendete Radio Luxemburg8 die neuesten Hits. Ab 1948 führte die englischsprachige Sendung Charts und zur besseren Reichweite wechselte der Sender 1951 auf 208 MW. Die englische Sendung stellte abends die neuesten Bands vor – "Here is Radio Luxembourg, the station of the stars". Die Sendung konnte auch in der Steiermark empfangen werden und so konnten Jugendliche die Neuerscheinungen hören und die Langspielplatten in den wenigen Plattenläden kaufen. Seit 1957 sendeten Radio Luxemburg9 auch deutschsprachige Sendungen und am 6.04.1958 startete erstmals die Hitparade, mit der Radio Luxemburg zum Trendsetter wurde. Die Scouts von Radio Luxemburg waren in London und im übrigen Großbritannien vor Ort, gingen auf die Suche nach Bands und neuesten Musiktrends. Wer zur damaligen Zeit keinen Kofferradio hatte, stritt sich abends meist mit den Eltern, um zumindest eine Stunde Radio Luxemburg hören zu können. Die anderen, mobil durch Kofferradio, gingen in die Parks, um laut Musik hören zu können. "Unsere Musik wurde in den Lokalen nicht gespielt, so gingen wir am Abend in den Augarten"10. Das war auch in den anderen Bundesländern bei den Jugendlichen üblich, die Gemeinden versuchten dies zu unterbinden, z.B. in Klagenfurt: "Klagenfurt. Kofferradio verboten. Der Klagenfurter Stadtrat projektierte ein allgemeines Verbot des Betriebes von Kofferradios und Plattenspielern in den städtischen Bädern und in den gesamten Parkanlagen der Stadt. Die Angelegenheit wird dem Gemeinderat zur Beschlussfassung vorgelegt werden."11 Der "gefährliche" Rock’n’Roll wurde ab 1962 allmählich durch den Beat, allen voran durch die netten, adretten, in Anzügen auftretenden Beatles abgelöst. Bei der "Beatle-Mania" wurden aus den aggressiven Rockern der 50er Jahre mit ihren Lederjacken und langen Koteletten vielmehr die gemäßigteren "Mods", und statt Saxophon und Trompete sorgte nun die Instrumentalisierung mit Melodie-, Rhythmus- und Bassgitarre sowie Schlagzeug für einen neuen weichen Sound12. Die Österreich- Ausgabe des STERN schrieb über die Beatles: "Sie sind das erfolgreichste Naturwunder des 20. Jahrhunderts. Schamanen einer Teenager-Generation. Sie brachten eine Welle ins Rollen, die in kurzer Zeit, von Liverpool ausgehend, Europa, Amerika und die ganze Welt überschwemmte. Die 'Beat-Welle'"13. Als "böser" Gegenpart wurden die Rolling Stones von den Medien tituliert, die sich vom zahmen Bild der Beatles abheben und deutlich, oftmals von Polizeieinsätzen begleitet, revolutionäre Klänge anstimmten. Anlässlich des Konzerts der Rolling Stones vor 12.000 Jugendlichen in der ausverkauften Wiener Stadthalle im Herbst 1965 schrieben die Zeitungen: "Mick Jagger, Schrecken aller Teenager-Mütter und Ruin der Friseure von Wien bis Liverpool, hechelt in sein Mikrophon, schluckt es, spuckt es wieder aus. Die Texte sind blödsinnig bis ordinär."14 Nur zögerlich wurde Beat-Musik im Hörfunkprogramm des ORF gespielt, das damalige 2. Programm strahlte am 14.09.1963 die erste Funkhitparade im heutigen Sinn aus, die Moderation Evamaria Kaiser15 nutzte die Gelegenheit mitunter verstohlen Beat-Musik zu senden.16 1964 war die LP With The Beatles von den Beatles acht Wochen lang Nr. 1 in Österreich, die LPs der 3 Spitzbuam im selben Jahr hingegen zwölf Wochen. 1966 lagen die Beatles-LPs Rubber Soul und Revolver zusammen sechzehn Wochen auf Nr. 1, die LP der Rolling Stones Aftermath nur vier Wochen.17 Wer von den Jugendlichen deutsches Fernsehen empfangen konnte, der konnte ab dem 25.09.1965 den Beat Club18 in der ARD sehen. Die Sendeform war sehr an das englische Original Top of the Pops19 angelehnt und es traten in dieser von Radio Bremen produzierten Sendung viele englische und US-amerikanische Popgruppen wie die Yankees, Rolling Stones, Mushrooms, Gerry and the Pacemakers, The Who u.a. auf.20 "Für mich war der Beatclub eine Sensation, konnte man endlich die Musikgruppen, die ich sonst nur vom Radio her kannte, live im Fernsehen sehen."21 Den wesentlichsten Einfluss übte die Beatmusik auf das Musikleben in der Steiermark aus: Die Konsumenten wurden zu Akteuren. MusikerInnen, meistens MusikstudentInnen der Kunstuniversität Graz, spielten schon vor der Beatära in diversen Tanzbands und Jazz- und Swingbands. Es bildeten sich nun jedoch Musikgruppen, die nicht nur Tanzmusik und Schlager spielten, sondern die mehr und mehr Beatund später Rocksongs nachspielten. Auf diversen Festveranstaltungen in ländlichen Regionen wurden an Wochenenden häufig in den Pausen der "offiziellen" Tanzmusik Beat- und Rocksongs von den Tanzmusikern selbst oder von anderen jungen Bands ("Mittelschülerbands") gespielt. Auch in gemeindeeigenen Volks- und Kulturhäusern und Pfarrhöfen wurde geprobt bzw. die Bands hatten dort ihre ersten Auftritte. Englisch war die lingua franca, Englisch zu singen und die Bands mit englischen Namen zu versehen gehörte – obwohl der Englischunterricht in Haupt- und Mittelschulen nicht auf diese Verwendung ausgerichtet war – zum Grundrepertoire. In den Städten wurden in Lokalen und Clubs Beat und Rock gespielt, aber auch mit Free-Jazz experimentiert. Das Forum Stadtpark Graz (gegr. 1958) bot neben seinem Literaturprogramm auch (oft spontane) Auftrittsmöglichkeiten für MusikerInnen. Im Wesentlichen können drei Musikzentren mit einer Auswahl an Bands in der Steiermark genannt werden:


1. Oberes Murtal (zwischen Judenburg und Leoben)

Bridgestone 66 (Peter Musenbichler, Reinhard Hörmann), gegr. 1966 in Knittelfeld, 1967 Umbenennung in Feeling, gewannen 1966/67 einen Bandwettbewerb in Judenburg mit dem Song Girl of Sixteen. The Gentles (Walter Schachner u. a.), gegr. Mitte der 60er in Zeltweg Blackbirds Judenburg, Gründungsdatum unbekannt, spielten bis Ende der 60er / Anfang der 70er Rockmusik, wechselten dann zum Schlager und zur Tanzmusik und waren damit in der Schweiz, Deutschland und auf Mallorca sehr erfolgreich. Generation 67 (Robert Musenbichler, Gerhard Dienes u. a.), gegr. 1967 in Knittelfeld, Ende 1968 / Anfang 1969 Umbenennung in Freak Out.


2. Graz

Hide & Seek (Tony Gruber, Robert Hosner, Heinrich Kusch, Alex Rehak (bis 1971), Wilfried Scheutz, ab 1971), Gründungsdatum unbekannt, gewannen 1969 den steirischen Bandwettbewerb Mephisto (Thomas Spitzer, Gert Steinbäcker), gegr. 1968, gewannen Anf. der 70er den steirischen Bandwettbewerb The Travellers (Roger Menas, Jimmy Cogan, Alex Rehak ab 1971), gegr. 1964? Mehrmalige Umbenennungen, 1970/71 The International Travellers, ab 1971 Turning Point Magic 69 (Andi Beit, Franz Posch, Johann Retto, Günter Timischl), gegr. 1969, 1974 Umbenennung in Magic (mit Boris Bukowski u. a.) The Mozarts (Herr Lugus), gegr. 1969


3. Sinabelkirchen, Ilz, Fürstenfeld, Südburgenland


Rocking Stars (Josef "Pepsch" Jandrisits ab 1968, Herbert Stranzl, Charly Renner u.a.), gegr. 1966, Ilz, 1. großer Auftritt 1966 in Zermatt (CH), Umbenennung in The Starfighters The Dirtls (Boris Bukowski, Alfred "Fredl" Lang † 1986, Erich "Riki" Reinberger, Helmut "Schiffkowitz" Röhling, Petrus Wippel ab 1969), gegr. 1966, Ilz / Sinabelkirchen, 1969 Umbenennung in Music Machine, 1971 Sieger des Steirischen Bandwettbewerbes The Time (Alfred "Fredl" Lang † 1986, Charly Renner, Petrus Wippel, Harald Hasenhündl, Wolfgang Kracher, Günter Timischl bis 1969, Peter Szammer ab 1969), gegr. 1968, Fürstenfeld, 1969 Umbenennung in The New Time.22 Nicht nur in den erwähnten Lokalitäten wurde geprobt und gespielt, sondern auch in Gasthöfen, abwechselnd mit Filmvorführungen in einem Raum, in Tanzlokalen, die sonst hauptsächlich Schlagermusik spielten, als Zugeständnis an das Publikum, aber auch in den ersten "Diskotheken" des Landes, z. B. im Tanzcafé Gabriel in Irdning (Bez. Liezen), dessen Entstehungsgeschichte wie folgt lautet: "So richtig angefangen hat Alles vor ungefähr 60 Jahren, wo [...] die Großmutter Anni von Donnersbach nach Irdning zog und den Wirtensohn Willi Gabriel heiratete. Damals gab es eine kleine Gaststube und eine Küche, wo sich die Leute aber meistens in der Küche aufhielten, und zu Wein und deftiger Hausmannskost ihre Lieder sangen. Im oberen Stockwerk, damals „Der Saal“ fanden diverse Bälle, und Veranstaltungen 6 bis 10 mal im Jahr statt. [...] Anfang der 60iger Jahre wurde der Saal zu einem Tanzlokal mit Live Musik umgestaltet! Der Chef des Hauses Josef Gabriel holte damals Bands mit dem klingenden Namen wie, Wiener Scotch Combo (Wien), Black Birds (Kapfenberg) 23 und Bands aus Rumänien und Polen!"24 Die Grazer und oststeirischen Bands spielten sehr häufig auch in süd- und mittelburgenländischen Dörfern und Kleinstädten von Nickelsdorf bis Oberwart. Die Gründe, warum sie gerade dort auftraten, erklärt ein Musiker: "Die Südburgenländer haben immer schon gerne gefeiert, im Südburgenland konntest Du jedes Wochenende ganz sicher Auftritte haben."25 Über das Repertoire der Musikgruppen, äußert sich derselbe: "Wir spielten Beat und Rock, aber du musstest auch Roy Black draufhaben, ohne Schlager ging nichts."26 Den Bands bzw. Musikern bot sich folgende Situation in der Steiermark zu Ende der 60er: Musikinstrumente waren sehr teuer, eine E-Gitarre kostete damals ca. 30.000 öS! Musikgeschäfte, die das Equipment führten, gab es nur in Graz (Musikhaus Nedwed, Stanberg), die aber auch Instrumente aus USA und GB (mit wochenlangen Wartezeiten) importieren mussten. Viele Musiker waren auf die finanzielle Hilfe von Verwandten angewiesen oder waren schwer verschuldet. In Graz stellte Hertha Nedwed (vom gleichnamigen Musikhaus) Musikinstrumente kostenlos zur Verfügung oder gewährte (oft jahrelangen) Zahlungsaufschub für den Erwerb der Instrumente. "Ohne die Frau Hertha hätte es uns Musiker nicht gegeben."27 Technisches Equipment wie Verstärker, Equalizer etc. existierte zu dieser Zeit noch nicht. Häufig wurde ein alter Röhrenradio von den Musikern selbst zu einem Verstärker umgebaut, denn Tontechniker im heutigen Sinne gab es noch nicht. Professionelles Management sowie Tourneeorganisation oblagen den Bands und Musikern selbst. Werbung in den Medien war sehr teuer bzw. die Bands wurden gar nicht beachtet (z. B. ORF), die Druckkosten für Plakate und Flugzettel waren für die Bands zu hoch. Gegen 1966/67 wurden zwar Bandwettbewerbe abgehalten, aber erst seit 1970 veranstalteten Heimo und Vojo Radkovic im Orpheum (Haus der Jugend) in Graz professionelle gesamtsteirische Bandwettbewerbe. Vielen Siegern und auch Teilnehmern dieser Wettbewerbe diente das Orpheum als Sprungbrett ihrer Karriere (z. B. Hide & Seek, Gert Steinbäcker, Opus u. a.). Es gab für Musiker in der Steiermark kaum Möglichkeiten, Singles bzw. Platten aufzunehmen, Tonstudios gab es nur wenige. Als Hide & Seek 1969 ihre erste Single River Street in Wien aufnehmen konnten, grenzte dies an eine Sensation, waren die Aufnahmen doch sehr kostspielig. Die Bands waren auf Live-Publikum angewiesen, für die Fans hieß es über Mundpropaganda die Auftrittsdaten zu erfahren und den Bands nachzureisen.29


Die 70er Jahre

Das Jahr 1970 gilt mehrheitlich als der Beginn des Austropop, Marianne Mendt gewann mit Wia A Glock’n in der Talenteshow Showchance der Ö3-Moderatorin Evamaria Kaiser den 1. Preis. Hide & Seek erreichten als einzige steirische Band den beachtlichen 6. Platz. Mit der Gründung von Ö3 im Jahre 1967 hatten Musiker und Bands die Chance, im Radio gespielt zu werden: Entweder nach Aufnahme und Einsendung eines Demobandes an die Ö3-Redaktion oder durch Entdeckung und Einladung von Evamaria Kaiser, die auf der Suche nach jungen Talenten, durch die österreichischen Regionen tingelte. Durch sie und Ö3 bekamen steirische Bands Zugang einerseits zum Medium, andererseits Kontakte zu Aufnahmestudios, Managern, Förderern, und zu anderen MusikerInnen. Im Sog von Woodstock und den Festivals von Isle of Whight (1970 das "europäische Woodstock" mit ca. 600.000 (!) Besucher- Innen) entstand auch in der Steiermark die Idee, Festivals und andere Großveranstaltungen für Jugendliche zu veranstalten. 1971 fand das 2-Tages-Festival auf der Schlosswiese von Poppendorf (zw. Gnas und Bad Gleichenberg), das bewusst als "Steirisches Woodstock" angelegt wurde. Es spielten dort alle steirischen Bands von Rang und Namen (außer Turning Point, die gerade auf Auslandstournee waren) vor ca. 5000 BesucherInnen und einem riesigen Gendarmerieaufgebot. Als Headliner waren Novak’s Kapelle aus Wien engagiert, die allerdings aufgrund ihrer provokanten Aussagen nach wenigen Minuten fluchtartig die Bühne verlassen mussten.29 1971 wurde die "Communication 71", ein 3-Tages-Festival für Jugendliche in Knittelfeld mit Auftritten von lokalen Bands wie Freak Out, veranstaltet. Sogar ein Kamerateam des ORF reiste an, um "das Freizeitverhalten von Jugendlichen in einer Kleinstadt zu dokumentieren", das Ergebnis wurde in der Sendung "Ohne Maulkorb" (ca. 1 Stunde) präsentiert.30 Auch in anderen steirischen und südburgenländischen Dörfern und Städten wurden in den folgenden Jahren kleinere Festivals veranstaltet, z.B. in Kohfidisch / Czaterberg (Bez. Oberwart), wo auch Wolfgang Ambros und andere Wiener Gruppen auftraten. Viele dieser Veranstaltungen wurden zu Institutionen der Festivalkultur, z. B. Jazzfest Wiesen (seit 1976), Jazzgalerie Nickelsdorf (seit 1979).31 Um das Jahr 1970/71 formierten sich die meisten Bands in einer derartigen Häufigkeit um, dass die Rekonstruktion sogar für die ehemaligen Bandmitglieder schwierig ist. "Es gab eigentlich nur 10 Musiker, wo jeder mit jedem in einer Band spielte, mal nur für einen Gig, andere wechselten fast täglich die Band. Wenn einer mal ausfiel, sprang ein anderer ein."32 Bis 1974 waren die Umformierungen der Bands, außer Freak Out (Auflösung 1975) und Turning Point für einige Zeit abgeschlossen: Magic (Boris Bukowski voc.) und Mashuun (Gert Steinbäcker voc.), zusammengewürfelt aus den Bands Magic 69, Mephisto und Music Machine. Die Bands sangen auf Englisch – die Dialektwelle des Austropop blieb vorerst ein Wiener Phänomen – und spielten vorwiegend Eigenkompositionen. Interessant ist, dass in der Steiermark keine Abgrenzung zu Jazz (besonders Freejazz) erfolgte, man trat sogar gemeinsam auf, z. B. Music Machine mit der Freejazz Improvisation Group von Eje Thelin. Die Reaktion einer Tageszeitung: "Vor drei Jahren war es noch völlig undenkbar − Jetzt werden zum ersten Mal in Österreich eine Pop-Gruppe und ein Jazz-Ensemble gemeinsam auftreten. Dieser Versuch soll der internationalen Entwicklung Rechnung tragen, die eine Annäherung und teilweise Verschmelzung der beiden klassischen Richtungen gebracht hat."33 Der Auftritt von Music Machine beim 1. Grazer Kunstmarkt im Juni 1971 bescherte ihnen die Titelseite einer Tageszeitung mit folgender Schlagzeile: "Ohrenbetäubende Beat-Musik tönt von der Rampe der [Grazer] Oper, junge Leute hocken im Becken des Springbrunnens, ältere Semester schütteln den Kopf: 1. Grazer Kunstmarkt."34 Während sich die Musiker vorwiegend an Beat- und Rockgrößen orientierten, war Mashuun35 mit Gert Steinbäcker (heute STS) als Sänger die erste steirische Hardrock- Band. Erster Auftritt am 24. Juni 1972 in Fürstenfeld: "Eine neue steirische "Super-Group" gibt heute um 19 Uhr in Fürstenfeld ihr Debüt. Sie rekrutiert sich aus Musikern von Gruppen, die bis vor kürzerem noch gut und teuer waren... Die Gruppe spielt – mit Ausnahme eines Rock’n’Roll-Medley’s – ausschließlich Eigenkompositionen. Sie spielen einen Stil, der nur sehr schwer zu kategorisieren ist. Das Repertoire ist äußerst abwechslungsreich, es erstreckt sich von Konzertgitarrestücken über elektronische Effekte und Tonmalerei bis zum aggressiven Rock. Akustische und visuelle Elemente bilden eine harmonische Einheit."36 Mashuun war auch die erste Band, die ihr eigenes technisches Equipment hatte: "Eigenbau einer innovativen, bis dato einmaligen HiFi-Musikbeschallungsanlage (nennt man heute PA), von mir entworfen und konzipiert, von uns allen gemeinsam gebaut − Zu einer Zeit, wo ein Gesangsverstärker mit zwei Breitbandlautsprecherboxen schon das höchste der Gefühle war. [...] Technische Daten: Aktives 3-Weg-PA, ausschließlich mit Exponentialsystemen bestückt, Gesamtausgangsleistung: 1kW, Mischpult mit 14 Kanälen, 3-fach EQ, eingebauter Hall, Bühnenmonitore, Direktabnehmer, [...] Ultrageiler Sound für die Zeit. Lichtanlage: 12 Spots a 300W mit Glasfarbfiltern. Da auch auf Showeffekte großer Wert gelegt wurde, gab es Accessoires wie Tongeneratoren, Leuchtraketen, Feuerzauber..."37 Nach 24 Auftritten in Österreich ging Mashuun 1973 nach Deutschland, um groß rauszukommen. Ohne einen Auftritt gehabt zu haben lösten sie sich 1974 auf. Petrus Wippel widmete sich der Tontechnik (Tontechniker bei Conny Plank, in dessen Tonstudio auch Frank Zappa seine Aufnahmen mischen ließ), Josef "Pepsch" Jandrisits ging als Gitarrist zur deutschen "Krautrockband" Guru Guru, Gert Steinbäcker kehrte in die Steiermark zurück, um zwei Jahre später STS zu gründen.38 Diese Band ist nur ein Beispiel von vielen in den 70ern, wo die Wandlung der Moralund Wertevorstellungen vollzogen wurde und die Akzeptanz, wohl auch durch die Konsumindustrie, für das Anders-Denken und Anders-Verhalten der Jugendlichen stieg. Medien nahmen sich, zuerst noch kritisch distanzierend, den Vorlieben der Jugendlichen an. Der ORF sendete in seinem 3. Programm Ö3 Beat- und Rockmusik, 1971, vor und nachdem der Film Woodstock in den österreichischen Kinos anlief39 wurden auch die Woodstocklieder in Ö3 gespielt. Das ORF-Fernsehprogramm installierte zwei Jugendsendungen: die Musiksendung Spotlight40 , in der aktuelle Bands auftraten und das kritische Magazin Ohne Maulkorb.41 Evamaria Kaiser und andere Moderatoren initiierten diverse Talente- Wettbewerbe und waren maßgeblich daran beteiligt, dass es dank dieser Nachwuchspflege in den Folgejahren zur Entwicklung einer österreichischen Popszene kam.42 In der Steiermark wurden durch die Steirischen Bandwettbewerbe professionelle Strukturen für MusikerInnen und Bands geschaffen. Die Jugendlichen hatten Zutritt zu den Konzerten, ohne, dass wie Anfang der 70er, ein Polizeiaufgebot wartete. In den Tages- und Regionalzeitungen trat ein Wandel in den Kulturressorts ein, jüngere Redakteure standen den Jugendlichen aufgeschlossener gegenüber. Die Hippie- und Studentenbewegung, die als erste Bewegung im Gegensatz zu den Halbstarken auch politische Ziele postulierte und Veränderungen forderte, war in Österreich und in den Bundesländern nur in abgeschwächter Form und vor allem erst in den 70ern zu beobachten. In Verbindung mit dem politisch reformfreudigen Klima der 70er entstanden völlig neuartige Kulturformen und so wurde die Basis für neue soziale Bewegungen der späten 70er und 80er Jahre geschaffen.43 Auf Basis der neuen Strukturen der 70er folgte die Rückbesinnung auf die eigene steirische Sprache, die Dialektwelle (seit 1970 im Wiener Raum etabliert) erreichte auch den steirischen Raum. Der Austropop in seinen vielen Erscheinungsformen als Kabarett-Theater (EAV), Übersetzungen von Beatles- und Crosby, Stills & Nash-Liedern ins Öststeirische bis zur Beschwörung von Fürstenfeld (STS), sowie einfache, skandierbare Lieder gegen den Kraftwerksbau in Hainburg bis zu Blödelsongs wie Motorboot, Motorboot (Kurt Gober Band) und romantischen Liebesliedern Romeo und Julia, Bahnhofstraße 104 (Carl Peyer) hatte durch den Dialekt wenig Schwierigkeiten auf Akzeptanz zu stoßen. Zwar waren noch immer die kleinräumlichen Strukturen vorherrschend, z.B. spielten diverse Musiker noch immer in Gasthofsälen44, aber Singles bzw. LPs wurden leichter erhältlich. Viele Musiker wurden Tontechniker und bauten eigene Tonstudios auf. In fast jeder Bezirkshauptstadt und in abgelegenen Teilen der Steiermark sind Tonstudios zu finden. Vielfach wurden Musiker zu ihren eigenen Produzenten, die aber auch andere MusikerInnen seit Ende 70er/Anfang 80er featuren, andere wiederum wurden Texter und Komponisten.


Nachwort


Das "Büro der Erinnerungen" betreut seit circa einem Jahr das Projekt "Music was my first love", in dem MusikerInnen der steirischen Szene interviewt werden und eine Datenbank mit Hörbeispielen erarbeitet wird. Diese Gespräche decken den Zeitraum Ende der 1960er Jahre bis heute ab. Diese Materialien werden auch in der Ausstellung abrufbar sein.





1 Luger, Konsumierte Rebellion, S.191 2 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 426 3 Untersuchungen über Österreich lagen der Verfasserin nicht vor, da aber der österreichische Markt ähnlich dem deutschen Markt war, kann der Vergleich durchaus angestellt werden. 4 Hans Veigl, Die 50er und 60er Jahre. Geplantes Glück zwischen Motorroller und Minirock, Wien 1996, S. 124f. 5 Wittmann, Österreichisches Hitlexikon, S. 1 - 3 6 Veigl, Die 50er und 60er, S. 125f. 7 Ebda., S. 134f. 8 1933 als 1. Privatsender Europas gegründet, 1992 eingestellt, seit 2005 wieder Ausstrahlung des englischsprachigen Programms nach Großbritannien, weltweit auch als Live-Stream im Internet: www.radioluxembourg.co.uk 9 Heute RTL-Radio Luxemburg 10 Interview von Gabriele Kaser am 26.08.08 mit S.T. (62 Jahre), Graz, Pensionistin, damals Lehrling 11 Die Presse, 08.06.1960 12 Veigl, Die 50er und 60er Jahre, S. 145 13 Ebda., S. 147 14 Ebda., S. 148 15 Evamaria Kaiser (*1927 Innsbruck †1994 Wien), Moderation bei Ö3 (bis 1975), Förderin österreichischer Nachwuchstalente, 1970 Moderatorin von Showchance, Gründerin der Kinderclowngruppe KAIKUKAS 16 Veigl, Die 50er und 60er Jahre, S. 147; Wittmann, Österreichisches Hitlexikon, S. XI 17 Wittmann, Österreichisches Hitlexikon, S. 12 18 Der Beat Club war die erste deutsche Sendung für Jugendliche und wurde bis 1972 ausgestrahlt. http://www.radiobremen.de/tv/beatclub/ 19 Die BBC strahlte die Sendung von 1964 bis 2006 aus. http://www.bbc.co.uk/ 20 Luger, Konsumierte Rebellion, S. 209; http://www.radiobremen.de/tv/beatclub/ 21 Interview von Gabriele Kaser am 07.07.08 mit F.P. (61 Jahre), Graz, damals Student 22 Die Angaben entstammen einerseits den Interviews mit den genannten Personen im Rahmen des Projekts „Rock“, LM Joanneum, Bild- und Tonarchiv (BTA) 2008, andererseits vom Verein SR-Archiv österreichischer Popularmusik www.sra.at. Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 23 Ob die oben genannten Blackbirds aus Judenburg gemeint sind, konnte noch nicht eruiert werden. 24 http://www.top-dancing.at/ 25 LM Joanneum, BTA, Projekt „Rock“, 2008, Interview mit J.J. (57 Jahre), Ilz, Musiker 26 Ebda. 27 Interview, J.K. (62 Jahre), Graz, Musiker 28 LM Joanneum, BTA, Projekt “Rock” 2008, Interviews; Interview J.K. (62 Jahre), Musiker 29 http://www.josef-jandrisits.at; http://members. aon.at/petruswippel/musik.htm 30 Interview von Gabriele Kaser am 24.06.08 mit K.S. (52 Jahre), Historiker, damals Schüler in Knittelfeld; Interview mit F.P. (61 Jahre), Gemeinderat, damals Student 31 LM Joanneum, BTA, Projekt “Rock” 2008, Interviews 32 Interview J.K. (62 Jahre), Musiker 33 http://members.aon.at/petruswippel/musik.htm 34 Kleine Zeitung, 20.Juni 1971 35 Peter Szammer dr., Franz Posch guit., Pepsch Jandrisits guit., Gert Steinbäcker voc. (ab 1973), Petrus Wippel bass, Wolfgang Erwa sound. 1972 Sieger des Bandwettbewerbs der deutschen Schallplattenzeitschrift fono forum und des Tonbandherstellers BASF, http://members. aon.at/petruswippel/musik.htm, www.sra.at 36 Kleine Zeitung, 24.06.1972 37 http://members.aon.at/petruswippel/musik.htm 38 Ebda. 39 Premiere in Graz im Royal-Kino im Dezember 1971, Interview J.K. (62 Jahre), Musiker 40 Von 1968 bis 1978, Moderator war Peter Rapp. 41 Von 1967 bis 1987, Moderatoren / Redakteure waren Rudi Dolezal, Hannes Rossacher, Vera Russwurm u. a. 42 Luger, Konsumierte Rebellion, S. 239 43 ebda., S. 218f. 44 Die Verfasserin erinnert sich noch sehr gut an die ersten Auftritte von Blue Thier & Coco-Band im Gasthof Gerstl in Egelsdorf (Gemeinde Sinabelkirchen, Bezirk Weiz).







Strömungen und Tendenzen in der Popkultur seit Woodstock



Woodstock fungiert als symbolischer Referenzpunkt für die Popkultur der Moderne, die sich durch konkrete Identifikationen und ein überschaubares Arrangement an Lebensstilorientierungen und Jugendkul...
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