Strömungen und Tendenzen in der Popkultur seit Woodstock


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Woodstock fungiert als symbolischer Referenzpunkt für die Popkultur der Moderne, die sich durch konkrete Identifikationen und ein überschaubares Arrangement an Lebensstilorientierungen und Jugendkulturen auszeichnet. Noch greifen klassische Abgrenzungsstrategien, die Rock- Kultur ist noch in ihren Jugendjahren, und Pop beherbergt noch die Unterscheidungen zwischen Mainstream und Underground, zwischen Massenkultur und Subkultur. Die Kulturindustrie hat jedoch Pop bereits als ertragreiches Terrain erkannt, was bedeutet, dass jegliche subkulturellen Lebensstile und symbolische Praktiken vermarktet und ökonomisch verwertet werden und über den Weg der Ware als entschlackte Konsumgüter zunehmend in die Offizialkultur inkorporiert werden. Unterschiedliche popkulturelle Strömungen tragen jedoch zumindest in ihren Ursprüngen noch rebellisches, renitentes und manchmal auch "weltverbesserndes" Potenzial in sich. Grundsätzlich gilt noch ein Glaube daran, die Welt durch bewusste Einstellungen, Positionen, politische Bekenntnisse und Lebensorientierungen verändern zu können. Den Übergang zur Postmoderne markiert eine "Schleuse" in die Gegenwart, die den grundlegenden Paradigmenwechsel in der Popkultur, der mit den 90er Jahren einsetzte, illustrieren soll. Unzählige wissenschaftliche und feuilletonistische Publikationen haben diese Transformation von Pop, die mit einem gesamtgesellschaftlichen Wandel von Werten, Orientierungen und Lebensstilen einhergeht, diagnostiziert und untersucht. Diese "Schleuse" in die Gegenwart soll im Rahmen der Ausstellung den Übergang der klassischen, sinn- und lebensstilgekoppelten Popkultur der Moderne zur "schwerelosen", flüchtigen Popkultur der Postmoderne fassbar machen. Um eine allzu lineare Geschichtskonstruktion mit ihren monokausalen Erklärungen zu vermeiden, erfolgt die Strukturierung der Ausstellung nicht im üblichen Schema der Gliederung in Jahrzehnten. Als Alternative zur Chronologie – die allerdings mit Hilfe von Zeitleisten immer wieder in die Ausstellung integriert wird – ist das Ordnungsprinzip in den Ausstellungsräumen durch die pop- bzw. jugendkulturellen Problemstellungen und Lebensstilorientierungen, die das Woodstock-Festival prägten, bestimmt (mehr dazu im Kapitel "Ausstellung"). Jedoch ist es notwendig an dieser Stelle in aller Kürze die wichtigsten Tendenzen in der Popkultur seit 1969, dem Ausgangspunkt unseres Projekts, zu paraphrasieren. Diese Entwicklungen dienen gleichsam als theoretischer Background für sämtliche Räume der Ausstellung. Intendiert wird, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Jugendkulturen bzw. der Popkultur der "Moderne" und jenen mannigfaltigen, parallel existierenden Jugendszenen und -strömungen der "Postmoderne" zu verdeutlichen.



1. Jugendkulturen in der ausgehenden "Moderne" von 1969 bis zum Ende der 1980er Jahre


1.1. Die siebziger Jahre

Die jugendliche Gegenkultur der ausgehenden sechziger und beginnenden siebziger Jahre forderte rationale Kritik, moderne Inhalte, Innovationen und Reformen. Altes Denken und Traditionen sollten überwunden werden, Demokratie und Transparenz würden das Schweigen der Elterngeneration bezüglich Sexualität oder der unverarbeiteten Vergangenheit auflösen. Viele Jugendliche sahen damals in ihrem Protest eine Befreiung aus intensiv erlebten Zwängen. Die 68er-Bewegung trat an, die "Moderne" durch Gleichberechtigung, Demokratisierung und Rationalität zu vollenden: "Ich hab mich interessiert für das, was ich in der Schule lernte. Ich hab das klassische Bildungsideal, was da vermittelt wurde, ernst genommen. Ich stand da voll dahinter, auch hinter dem katholischen Glauben. Jeden Morgen Kirche vor der Schule. Um vier Uhr aufgestanden jahrelang! Und dann gleich beten und Rosenkranz und Yoga gemacht zuhause. (...) Sexualität total unterdrückt. Das kippte dann mit 17 Jahren. Das war 1969. Und dann hab ich mich dagegengestellt." Die Prinzipien der Moderne wurden von den Nachfolgern der 68er nach und nach in Frage gestellt: Die Herrschaft von Vernunft und Wissenschaft, der Verlust von Spiritualität und expressiver Lebensfreude, die Unterwerfung von Natur und Mensch, die Reduktion des Lebens auf das Leistungsprinzip wurden zunehmend abgelehnt. All dem setzte man das Prinzip des "Archaiischen" entgegen. Das Verlangen nach einer "kritischen Modernisierung" wurde vom Ruf nach "Entmodernisierung" respektive "Zurück zur Natur" abgelöst. Dem entsprach auf der einen Seite der Ausbruch in die Ferne (Indien, Griechenland etc.), auf der anderen Seite die Bewegung zurück aufs Land (Landkommunen):

"Riesige Betonklötze voller verkrüppelter Menschen, deren Füße die Form eines Gaspedals und deren Köpfe die eines Fernsehgerätes angenommen haben. Das sind sie: unsere Städte. (...) Fabriken, in denen Menschen zu Maschinen degradiert werden und von Maschinen beherrscht werden. Konsumbunker, Einkaufszentren genannt, in denen eine Unzahl Dinge angeboten werden, die kein Mensch braucht, Abfallhalden, die die Landschaft prägen. Je mehr konsumiert wird, desto mehr wird auch weggeworfen. Alle gefangen in einem System von Arbeit, Produktion, Verbrauch, Arbeit, Produktion, Verbrauch, ohne Ende. In diesem künstlichen Urwald ist Kommunikation nicht möglich. (...) Aber wir können das Dilemma überwinden. (...) Wir können aufs Land ziehen und dort Wohngemeinschaften gründen. Wir können zeigen, daß es auch anders geht. Es liegt nur an uns! Steigt aus dem sinnlosen Spiel aus. In Südeuropa stehen ganze Dörfer leer, die nur auf uns warten. Dort fernab der Hektik der großen Städte können wir zu uns selbst und zum andern finden. Dort wird es möglich sein in Übereinstimmung mit der Natur zu leben."

Mit dem Ende der siebziger Jahre konzentrierte sich der jugendkulturelle Protest auf die Stadtzentren. Autonome Bewegungen entstanden und gingen schließlich in der Hausbesetzerszene auf. Der Punk mit seinen "Zitaten des unterworfenen, entrechteten und ausgebeuteten Wilden", dem der Kapitalismus jegliche Zukunftsaussichten verwehrte, nahm sich seinerseits die Einkaufsstraßen im Kampf um die Wiedergewinnung von Lebensraum zurück: "Die Straße soll leben, soll Freiraum sein. Wir sind enteignet und entrechtet worden! Da kommen die Weißen, die Kolonisten, die Ausbeuter und Geschäftemacher und erobern unsern Lebensraum. Wir sind Indianer, die des Landes beraubt wurden. Und als Stadtindianer müssen wir gegen diese Weißen kämpfen."


1.2. Die achtziger Jahre

In den achtziger Jahren verhielt sich ein großer Teil der Jugendlichen angepasst und "normal", obwohl gegenkulturelle Strömungen weiterhin existierten. Kon- flikte mit der Erwachsenenwelt oder den Autoritäten in Schule und Beruf wurden eher umgangen, vermieden oder nicht als solche empfunden. Andere Jugendliche wiederum wie etwa die Popper überzogen die Erwartungen der leistungs- und konsumorientierten Gesellschaft dermaßen, dass sie selbst von den Erwachsenen als Provokation empfunden wurden. "Die achtziger Jahre sind ein sehr extrovertiertes Jahrzehnt. Man will was erleben, hat Spaß am Vorzeigen der eigenen Person. Den Widrigkeiten einer düsteren Welt begegnet man mit augenzwinkernder Dekadenz: Ideologien landen da natürlich im Mülleimer. Stattdessen wird die Mode und alles, was gut gestylt ist, wieder wichtig. (...) Man hat keine Illusionen mehr. Die Teens und Twens wollen deshalb nicht ihren Geist, sondern ihre Haut zu Markte tragen. Der Narzismus hilft ihnen sich wohlzufühlen. (...) Glätte ist ein Manifest der Zeit." Die Übergänge zwischen den einzelnen Szenen sind fließend, vor allem vom Punk zu den jungen Manieristen der achtziger Jahre. Während der "alte Rock" gekennzeichnet war durch die Gitarre, durch Live- Auftritte von Gruppen, durch Ausdruck von Spontaneität, bevorzugen die Manieristen raffiniert gestylte Klänge. Die Kleidung signalisiert Coolness und ästhetische Sensibilität, man gibt sich unnahbar, souverän und wenig gefühlsbetont. Die Szene trifft sich in Discos, Videobars, Boutiquen und in kalt gestylten Cafés. Debatten über Politik und Ökologie sind wenig gefragt. Engagierte Naturschützer und Gesellschaftsveränderer werden als "B.O.F.s" (Boring Old Farts), als stilistisch "out" und damit auch inhaltlich uninteressant eingestuft. Dennoch drückt auch dieser Manierismus Protest und Widerstand aus: durch Nicht- Thematisierung, Sich entziehen, durch die Rituale des neuen Hedonismus. Geld wird verdient, um Kleidung und Platten zu kaufen. Man spricht kalt-zynisch von der künftigen Karriere und vom großen Geldverdienen. Schick und akzeptiert zu sein (jedenfalls von der Szene) ist ebenso "in" wie die betonte Gleichgültigkeit gegenüber großen Themen. Musiker und Musikgruppen wie Boy George oder Duran Duran setzen hier die kulturellen Trends (auch für das akzeptierte Erscheinungsbild) für die Jüngeren, David Bowie, Frankie goes to Hollywood und Eurythmics – und schon viel früher Roxy Music – für die Älteren.



2. Die "Schleuse" in die Gegenwart


Die "Schleuse" verweist auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die für das Verständnis der heutigen Popkultur wesentlich sind. Diese Umbrüche, die zeitlich etwa seit Beginn der 90er Jahre stattgefunden haben, werden nicht nur aus didaktischen Gründen in einer "Schleuse" gebündelt. Spätestens seit Ende der achtziger Jahre verdichteten sie sich und erreichten gerade durch ihre Kombination eine ungeahnte neue Qualität, auf die vor allem Jugendliche sehr sensibel reagieren:

  • Durch Rationalisierung und Automatisierung werden zunehmend Arbeitskräfte freigesetzt. Die Entwicklungen im Bereich der Mikroelektronik und EDV verschärfen die prekäre Arbeitsplatzsituation in den westlichen Industrieländern und den ehemaligen Ländern des Ostblocks. Die Arbeit geht zu Ende. Auch der Staat ist immer weniger fähig, soziale Sicherheit in ausreichendem Maße für alle gesellschaftlichen Gruppen zu garantieren.

  • Die technische Möglichkeit von Telekommunikation und bildlicher Digitalisierung bedeutet eine Aufhebung von räumlichen und zeitlichen Grenzen. Die Computeranimation lässt keine "authentische" Wahrnehmung mehr zu, es gibt kein Vorher und Nachher, Fiktion und Realität lassen sich nicht unterscheiden: Jedes nur erdenkliche Bild und jedes nur erdenkliche Geräusch lassen sich in digitaler Form simulieren, jeder Geruch ist synthetisch herstellbar. Man spricht von virtuellen Welten und Cyberspace. Diese Hyperrealität – die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen – verlangt auch nach einer veränderten, angepassten Wahrnehmung.

  • Die digitalen Möglichkeiten übertrumpfen unsere Wahrnehmungs- und Ausdruckschancen: Akte des Löschens ("DEL") und des A posteriori-Auswählens werden für sämtliche Schaffens-, Kommunikationsund Konsumationsprozesse zentral. Der Zugang zu sämtlichen Archiven kultureller Äußerungen ist gegeben und zumindest in der westlichen Welt nahezu immer frei zugänglich. Dies bedingt, dass Akte der Informationsfilterung und -codierung Tätigkeiten des klassischen Sammelns und Archivierens ablösen. Jeder wird zum Selektor der für sein/ihr Leben relevanten Information.

  • Natur- und Umweltkatastrophen geben dem Einzelnen vermehrt das Gefühl des Ausgeliefertseins: Angst vor dem Ozonloch, Angst vor atomarer Gefahr, Überbevölkerung, Migrationsbewegungen, Wassermangel, Terroranschlägen, Waldsterben, Verarmung – um nur einiges zu nennen – schweben ständig als Bedrohung über dem Menschen. Apokalyptische Gedanken bieten sich gerade mit der nahenden Jahrtausendwende an.

  • In diesem Kontext ist auch der technische Fortschritt fragwürdig geworden, die Beherrschbarkeit der Welt im Namen von Vernunft und Rationalität wird zunehmend angezweifelt. Diese Skepsis geht einher mit verbreiteten Phänomenen wie Okkultismus, Esoterik und New Age. Die akademische Schulmedizin wird ebenso in Frage gestellt wie Fortschrittsglaube, Wirtschaftswachstum und andere, mit Zahlen, Daten und Fakten, Wissenschaft und Geschichte belegte und bezeugte "Wahrheiten".

  • Unbestimmtheit, Verlust des Ganzen, Verlust der ideellen Heimat, Auflösung gewachsener Strukturen (Familie) und mächtiger Institutionen (Kirche, politische Parteien) tragen zu Pluralisierung und Individualisierung bei und scheinen unaufhaltsam fortzuschreiten. Pluralisierung und Individualisierung bringen vermehrt persönliche Freiheiten und Chancen, aber auch Unsicherheiten, eminente Risiken und Probleme, etwa die Angst vor Fehlentscheidungen.

  • Das Jahr 1989 markiert mit dem Fall der Berliner Mauer einen Wendepunkt in der Geschichte. Der Zusammenbruch von Ideologien und politischen Systemen brachte einerseits große Erleichterung und Hoffnungen, aber auch neue Verunsicherungen und Ängste auf vielen Ebenen mit sich.


    2.1. Popkultur in der "Postmoderne"

    Die wesentlichen Widersprüchlichkeiten im jugendlichen Alltag des ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhunderts können folgendermaßen de- finiert werden:

  • Auf der einen Seite fordern Schule und Beruf Disziplin und Planung, auf der anderen Seite werden in der Freizeit Geldausgeben und Augenblicksvergessenheit forciert. Sämtliche Lebensbereiche sind streng durchökonomisiert: Vom Handy- Klingelton über die Fertig-Pizza bis zum Club-Besuch.

  • Die Individualisierung hat ein neues Stadium erreicht: Die Selbstinszenierung und der Kult um da eigene "Ich" zeigt sich in allen – öffentlichen wie auch privaten – Lebensbereichen. Das Hauptterrain des ungebremsten Selbstkultes ist aber das Internet.

  • Die steigende Bilderflut mit Ton- und Geräuschkaskaden der Videoclips und der Werbung konterkariert die Vermittlung traditioneller Bildungsinhalte und führt zwangsläufig zu einer neuen Wahrnehmung der Umwelt.

  • Zeichen und Symbole haben ihre Bedeutung verloren bzw. tragen multiple Bedeutungen. Die Bedeutungen popkultureller Symbolarrangements sind ob xfacher Bricolage-Strategien, wiederholter Imagetransfers und ihrer Inkorporierung in die Offizialgesellschaft verlustig gegangen. Dennoch ist die Dominanz des Symbolischen sowohl im öffentlichen wie auch im privaten Raum ungebremst. Der Verlierer ist das geschriebene Wort, das aber nach wie vor in diversen Ausbildungs- und Karrierezweigen eingefordert wird.

  • Die Erwachsenenkonturen werden immer mehr verschleiert, denn die "junggebliebenen" Mütter und Väter übernehmen "jugendliche" Verhaltensmuster.

  • Hinzuweisen ist auch auf die steigende Optionenvielfalt. In den Moden wird alles verfügbar, jede Entscheidung bedeutet zugleich auch den Ausschluss von unzähligen anderen Möglichkeiten, die man damit versäumen könnte. Dies führt zu rapid beschleunigten Modezyklen. Was gestern noch hip war, ist heute schon retro.

  • Die Abgrenzung zu den "Anderen" – seien es nun die Eltern oder andere Jugendkulturen – ist kaum mehr möglich: Pop ist in die Jahre gekommen, die Eltern haben schon auf "Teufel komm raus" rebelliert, alle Lebensstile sind schon vorgekaut, Lebensorientierungen scheinen angesichts ihrer Reduktion auf ihre ökonomische Funktionalität sinnlos. Normal, grau und leise zu sein, scheint von neuer Qualität, wenn die ganze Welt dem Sinnesrausch frönt.

  • Das kulturindustrielle Prinzip des Remixes und des Revivals dominiert alle kulturellen Sphären: Jede popkulturelle Epoche wird wiedergekaut und über diverse Retro-Inszenierungen neu aufbereitet. Von "Wickie, Slime & Paiper" über 80er Jahre- Techno-Remixes bis hin zu 90er-Jahre- Parties a la "Worst of the 90s": Die Kulturindustrie hat das Spiel mit popkulturellen Selbstreferenzen zum Mainstream-Programm gemacht. Zudem ist anzumerken, dass die einzelnen Retro-Trends immer flüchtiger und schneller werden, und darüber hinaus immer öfter in Kombination auftreten.

    Die Digitalisierung der Musik (Stichworte: MP3, Tauschbörsen) hat einen Paradigmenwechsel in der Musikindustrie ausgelöst und zu dem geführt, was gemeinhin als die "Krise der Musikindustrie" bekannt ist. Es haben sich unterschiedlichste Herangehensweisen etabliert, mit dieser neuen Situation umzugehen, die gängigsten sind jedoch zum einen die vehementen Copy-Right-Strategien der Major-Labels, zum anderen die Free-Music-Bewegung und die netzbasierte Labelkultur, die Musik gratis zum Download anbietet.

  • Symbolische Identifikationen sind nicht mehr zwingend Korrespondenzen auf Lebensstile: Insbesondere H&M und ähnliche Firmen ermöglichen den Zugang zu popkulturellen Moden und Stilen ohne den Ballast des Bekenntnisses zu einst damit kolportierten Werthaltungen. Die Relation zwischen Moden und Werten ist geschwunden. Mode ist jetzt bloß das, was das Wort eigentlich immer schon meinte: ein vergängliches, flüchtiges körperliches Statement.

  • Schließlich steht eine tendenziell offene Freizeitgesellschaft einer immer mehr geschlossenen Arbeitsgesellschaft gegenüber. Im Freizeit- und Konsumbereich ist nahezu jeder – mit Einschränkungen sozialer oder ethnischer Natur – willkommen, im Arbeitsbereich aber dominieren Hierarchien, Positionen, Abhängigkeiten und Ausschluss. Auf diese Entwicklungen reagieren die heutigen Jugendkulturen mit "einer Art fröhlich-referenzlosem Nomadentum und provokantem Durcheinanderwirbeln und Schockieren in den Sinn-Ruinen sowie einer Art dadaistischen Demontage und ironischen Leichenfledderei", die zum "vitalen Lebensprinzip" geworden sind. Utopien, Visionen und Ideologien – wie sie von den 68ern verfolgt wurden – langweilen nur mehr, weil "alle Formen kollektiven Widerstands in der Vergangenheit kläglich gescheitert" sind. Demgegenüber geht es nun eher darum, spielerisch und ironisch mit den Verhaltensregeln unserer Gesellschaft umzugehen. Ein Großteil der Jugendlichen verhält sich nicht als "unermüdliche politische Systemsaboteure" und lässt sich aber auch nicht völlig vereinnahmen.

  • Die Ernsthaftigkeit der Lage der Welt wird von ihnen voll erkannt und offen ausgesprochen – mit Ironie und ohne Unschuld: "Mein Schwager sagt: ´Techno ist das Ende der abendländischen Kultur´. Daran will ich beteiligt sein und mitwirken."

  • Die sehr persönliche Suche nach dem "Ich" ist für viele Jugendliche von zentraler Bedeutung. Die Gratwanderung zwischen Anpassung und Individualität ist sozusagen ein traditionelles Paradigma von Jugendlichkeit, ebenso wie die Betonung von Privatheit und Selbstverantwortung: "Ich denke, wie ich will, und stoße so auch an97 dere vor den Kopf und enge sie ein, aber damit müssen die fertig werden, nicht ich. Frei ist, der das freiwillig macht, was von ihm verlangt wird."

  • Der Wunsch nach Gruppenerfahrung – das Spektrum reicht von Gewalterfahrungen bis zum gemeinsamen Beten – ist nach wie vor sehr ausgeprägt: "Gewalt in der Gruppe macht mehr Spaß und ist auch effektiver."

  • Politik wird vielfach ironisiert und mit ästhetischen Kriterien verbunden. Dies wird häufig als politisches Desinteresse missverstanden: "Ich setze mich dafür ein, dass nach der Revolution die richtige Musik läuft."

  • Die in den Medien gerne als Generation Y bezeichneten Jugendlichen, die etwa zwischen 1980 und 1995 geboren wurden, wachsen mit einer selbstverständlichen Einschätzung hochkomplexer IT-Geräte und Medien auf. Digitale Medien sind die Basis der eigenen Lebenswelt und der Identitätsfindungsprozesse. MySpace hat das Stamm- und Tagebuch endgültig abgelöst.

  • Die Identitätssuche wird ins Netz verlagert: Jugendliche definieren sich über hunderte Alter Egos und Avatare in Second Life, Blogs und Internetportalen. Selbstinszenierung auf MySpace, flickr und facebook ist essentielles "Tagesgeschäft", wird aber oft zum sinnentleerten Selbstzweck: Das abgeklärte Wissen über die Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit des eigenen Handelns im Netz schwingt oft ironisch mit, dennoch hat der Selbstkult und die Selbstinszenierung im Netz ungeahnte Ausmaße erfahren.

  • There is always music in the air: Musikkonsum ist omnipräsent und wird als gratis Alltagssoundtrack wahrgenommen. Der durch die Digitalisierung ausgelöste Paradigmenwechsel in der Musikindustrie bedingt neue Einstellungen gegenüber Musik und Sound im Allgemeinen: Die meisten Jugendlichen haben keinen Bezug mehr zu analogen Soundwiedergabemedien und Tonträgern: Musik wird als austauschbare Daten-Files ohne symbolisches Füll- und Beiwerk erfahren, die generell gratis (neudeutsch: "frei") im Netz verfügbar sind. Das wohl wichtigste Wiedergabemedium ist das Handy, die Tonqualität entspricht dort zum Teil 12bit-Sounds wie man sie von alten Computern kennt. Alle aktuellen Jugendkulturen bauen auf dem Handy als zentralem Kommunikations- und Entertainment- Medium auf.

  • Anpassung ist the New Cool: Wenn alles schon da ist und die Eltern schon die gleichen Musikstile hörten wie heute ist das Auslagern von sinnstiftenden Momente in einstmals uncoole Bereiche plötzlich en vogue bzw. macht oft einfacher Pragmatismus am meisten Sinn: Eine bodenständige Karriere ist oft der sicherste identifikatorische Eckpfeiler in einer überreizten Welt der multiplen, flüchtigen Lebensstile. Andere Praktiken sind etwa das gezielte Ausweichen in die Vergangenheit, wie etwa der "Granny Style", wo ganz gezielt auf die 30er und 50er Jahre – natürlich rein auf visueller Ebene – Bezug genommen wird.

  • Das letzte existierende Bekenntnis ist das Bekenntnis zur Veränderung: Feste Lebensorientierungen sind rar, viel eher stülpt man Einstellungen wie Modeaccessoires über.

  • Die Erosion des Zeichens zeigt sich in der fehlenden Relation zwischen Mode und einer damit bezweckten Aussage mit Koppelung an Lebensorientierungen oder gar soziopolitische Haltungen. Selbst die Strategien der Bricolage sind sinnentleert und austauschbar. Als bestes Beispiel sei hier etwa auf den "Palifetzen" (Kufiya) der Wiener "Krocha" verwiesen, der einst ein Symbol arabischen und später linken Widerstands war. Bei den Krochan wird das PLO-Tuch sinnentleert, als reine bedeutungslose Modegeste getragen. Weil’s cool ist, obwohl’s im Sommer sehr heiß damit werden kann.

  • Jugendliche sind heute in einem großen Maß in der Lage ihre eigene Situation zu bedenken und für sich und andere zu reflektieren. "Herr Professor, ich konnte die Aufgabe nicht machen, weil ich Probleme habe. Ich bin ja in der Pubertät."







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